Armin Pfahl-Traughber
Wege eines atheistischen Philosophen
Joachim Kahl zum 60. Geburtstag

Erstveröffentlichung in:
diesseits. Zeitschrift des Humanistischen Verbandes,
Berlin, Jahrgang 2001, Heft 2, Seiten 17-18.

Fragt man nach den bedeutendsten kritischen Büchern, die in der Nachkriegszeit zu Christentum und Kirche erschienen sind, so ist auf jeden Fall "Das Elend des Christentums" zu nennen. Der Verfasser Joachim Kahl, diesseits als Autor verbunden, feierte am 12. Mai runden Geburtstag.

"Das Elend des Christentums" erschien erstmals 1968. Kahl war damals ein frisch promovierter evangelischer Theologe, der nach Abschluss seines Examens öffentlich mit dem Glauben brach und aus der Kirche austrat. Das Buch stellte eine ebenso sachkundige wie zornige Abrechnung mit Religion und Institution des Christentums dar. Binnen kurzer Zeit fand es weite Verbreitung, erschien das Werk doch in der renommierten "aktuell"-Reihe des Rowohlt-Verlags. Bis Anfang der achtziger Jahre wurden über 120.000 Exemplare verkauft und das Buch in vier Sprachen übersetzt. Unmittelbar nach der Veröffentlichung erschien sogar ein gesonderter Sammelband mit kritischen Beiträgen aus theologischer Sicht. Eine Neuausgabe des Buchs brachte Rowohlt 1993 mit einem neuen Vor- und Nachwort heraus.

Wer ist nun aber der Autor von "Das Elend des Christentums"? Welche Motive bewegten ihn zum Bruch mit Christentum und Kirche? Und welchen philosophischen und politischen Weg ging Kahl nach dieser Entscheidung als bekennender Atheist?

 

Habe nun, ach! Theologie studiert...

In Köln 1941 geboren, studierte Kahl von 1960 an in seiner Heimatstadt protestantische Theologie. Seine feste Absicht war, Pfarrer zu werden. Besonders angesprochen fühlte er sich von den kritischen Strömungen innerhalb der seinerzeitigen Universitätstheologie. Das erklärt die bewusste Auswahl seiner späteren Studienorte Bonn, Marburg und Zürich. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit der Theologie trat Kahl schließlich aber nicht mehr nur für eine Reformrichtung ein, sondern brach ganz mit Christentum und Kirche.

Als schon Ungläubiger promovierte er 1967 in Marburg zum Doktor der Theologie mit einer Arbeit über "Philosophie und Christologie im Denken Friedrich Gogartens". Darin versuchte er zu belegen, dass sich dessen Theologie systemimmanent in Philosophie auflösen lasse. Als Konsequenz aus dieser Einsicht und der Abwendung vom Glauben trat Kahl noch im gleichen Jahr aus der Kirche aus und wandte sich fortan der Philosophie zu. In Frankfurt/Main begann er ein Zweitstudium in diesem Fach und orientierte sich an Vertretern der "Kritischen Theorie" wie Theodor W. Adorno, Jürgen Habermas und Oskar Negt.

"Das Elend des Christentums. Plädoyer für eine Humanität ohne Gott" zog ein Jahr später einen Schlussstrich unter Kahls theologische Phase. Es enthält seine grundlegende Absage an Kirche und Religion.

 

Marxistische Bekenntnisse

1972 kehrte der zwischenzeitlich am Marxismus orientierte Kahl nach Marburg zurück. Dort promovierte er 1975 bei dem bekannten marxistischen Philosophen Hans Heinz Holz mit der Arbeit "Positivismus als Konservativismus". Sie widmet sich dem Wissenschaftstheoretiker Ernst Topitsch. Sie veranschaulicht die Hinwendung zu einem dogmatischen Marxismus, der ganz auf der Linie der "Marburger Schule" um Wolfgang Abendroth lag. Diese fühlte sich dem Marxismus-Leninismus der DKP und dem Verständnis der DDR verpflichtet. Entsprechend fanden sich im Vorwort sowohl Bekenntnisse zu dem Prinzip der Parteilichkeit als auch Ausführungen zum direkten Zusammenhang von Klasseninteresse und Philosophie.

Der einseitige Blick auf die sozioökonomische Verfasstheit von Gesellschaft ließ Kahl auch den wichtigen Unterschied von Pluralismus und Totalitarismus als bloße Überbauphänomene in seiner Bedeutung ignorieren. Diese philosophische und politische Auffassung führte 1984 indirekt dazu, dass Kahl an der Universität Marburg keine Lehraufträge für Philosophie mehr erhielt.

1977 veröffentlichte er in dem von Karlheinz Deschner herausgegebenen Sammelband "Warum ich Christ/Atheist/Agnostiker bin" den Beitrag über das atheistische Selbstverständnis. Neben einigen autobiographischen Ausführungen zu seinem Bruch mit der Religion entwickelte Kahl dort eine Typologie des Atheismus und stellte sein marxistisches Verständnis in systematischer Form dar. Die dortigen Ausführungen veranschaulichen, dass er auch in dieser Phase seiner geistigen und politischen Entwicklung durchaus differenziert analysierte und bewertete.

Kahl kritisierte in dem Aufsatz eine aggressive und hämische Religionskritik und wies hier * ganz dem Marx-Wort vom "Opium des Volkes" verpflichtet * auf die Protest- und Trostfunktion der Religion hin. Es gelte, die im Glauben sich artikulierenden Sehnsüchte nicht zu verlästern, sondern ernst zu nehmen. Demgegenüber galt Kahl eine Kritik der Religion als Betrug der Massen als naiv. Religion sei primär, nicht absichtliche Täuschung, sondern gesellschaftlich notwendiges falsches Bewusstsein. Das Christentum wäre darüber hinaus eine Durchgangsstufe im sittlichen Reifungsprozess der Menschengattung.

In dem Aufsatz bezeichnete Kahl "Das Elend des Christentums" als Ausdruck eines "subjektiv-idealistischen Humanismus, von dem aus * abstrakt und unhistorisch * die christliche Religion moralisch verurteilt" werde. Damit distanzierte er sich zwar nicht von dem Werk, sprach aber aus seiner marxistischen Position heraus von Fehlern und Schwächen. "Warum ich Atheist bin" enthält aber auch durchaus undogmatische Auffassungen, kritisierte Kahl dort doch indirekt auch das starre Basis-Überbau-Modell der Vulgärmarxisten: Die Religion sterbe zwar ab, wenn ihre materiellen Wurzeln beseitigt seien, aber sie sterbe nicht im Selbstlauf, nicht automatisch. Eine solche Annahme ignoriere die relative Eigenständigkeit des ideologischen Überbaus der Gesellschaft: das Beharrungsvermögen uralter geistiger Traditionen.

 

"Weg mit den Berufsverboten!"

Gleichwohl blieb Kahl auch zu dieser Zeit und noch in den nächsten Jahren der marxistisch-leninistischen Philosophie verpflichtet. Diese geistige Ausrichtung fand auch Niederschlag in seinem politischen Engagement. Als Sprecher zunächst des "Marburger Komitees gegen Berufsverbote" und danach des "Hessischen Komitees gegen Berufsverbote" engagierte Kahl sich zwischen 1972 und 1990 gegen den sogenannten "Radikalenerlass". Er empfand diese Arbeit als eine wertvolle Schule der Demokratie und Toleranz, erkannte allerdings erst relativ spät, in welchem Ausmaß er sich in diesem Zusammenhang unkritisch von der DKP hatte instrumentalisieren lassen.

Kahl brach aber letztlich mit dem dogmatischen Marxismus-Leninismus. Das Vorwort zur Neuausgabe von "Das Elend des Christentums" erhält eine kurze Betrachtung zu dieser Entwicklung. In der Rückschau meint der Autor, seine atheistische Philosophie habe selbst eine religiöse Färbung angenommen, seine protestantische Theologie hätte sich in marxistische Teleologie verwandelt. Er sei der Faszination des Kommunismus erlegen, habe ein dogmatisches Sinnsystem angenommen und den weltweiten Übergang zum Sozialismus erhofft. Deschner hatte Kahl im Vorwort des genannten Sammelbandes als "gläubigen Ungläubigen" kritisiert. Damals ärgerte ihn dies, nun akzeptierte Kahl diese Kritik.

Gleichwohl nahm er weder von einer materialistischen Prägung seines philosophischen Denkens noch von der grundlegenden Kritik des Christentums Abschied. An dem grundsätzlichen Nein zur christlichen Botschaft aus Gründen des Gewissens und der Vernunft hält Kahl weiterhin fest. Das Nachwort zur Neuausgabe von "Das Elend des Christentums" enthält in diesem Sinne kritische Anmerkungen zu neueren "theologischen Rettungsversuchen", ebenso eine schöne Polemik zu Eugen Drewermann und Leitgedanken zu einem atheistischen Humanismus.

 

Wo Kahl heute steht

Von 1982 bis 1990 arbeitete Kahl als Bildungsreferent des "Bundes für Geistesfreiheit" in Bayern, einer an der atheistischen Philosophie Ludwig Feuerbachs ausgerichteten Weltanschauungsorganisation, deren Nürnberger Zweig heute zum Humanistischen Verband gehört. Danach betätigte er sich bis heute als freiberuflicher Philosoph mit Veröffentlichungen und Vorträgen zu den unterschiedlichsten Themen. Hierzu gehört neben der Religionskritik auch die philosophische Deutung von Kultur, Kunst und Märchen, aber auch von Alltagsverhalten und persönlichen Beziehungen.

Philosophisch versteht sich Kahl heute als Vertreter eines skeptischen Atheismus und Humanismus und politisch als Anhänger demokratischer Reformpolitik. Hinsichtlich kultureller Fragen lässt Kahl mitunter auch konservative Auffassungen erkennen. Gegenwärtig arbeitet er an einer systematischen Darstellung seiner eigenen Philosophie. Sie will sich an den vier Leitmotiven Atheismus, Dialektik, Naturalismus und Skepsis orientieren. Möglicherweise findet sich darin auch eine systematische philosophische Darstellung eines humanistischen Atheismus, woran es bislang noch mangelt. Nachdem leider alle anderen Veröffentlichungen Kahls vergriffen sind, dürfen wir auf das Erscheinen dieses Bandes gespannt sein.

Dr. phil. Armin Pfahl-Traughber, Jahrgang 1963, Politikwissenschaftler und Soziologe, bekannt durch zahlreiche Veröffentlichungen zu Themen der Rechtsextremismus- und Antisemitismusforschung.


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